Der Wirkstoff Lecanemab soll im Eilverfahren zugelassen werden – doch ist der Jubel um das Alzheimer-Medikament gerechtfertigt?

Alle Welt wartet auf ein wirksames Alzheimer-Medikament und endlich auf einen Forschungserfolg aus der Arzneimittelindustrie. Die Erwartungen sind hoch, die Zeit drängt nach all den Jahren der Misserfolge, dem Scheitern des höchst umstrittenen Antikörpers Aducanumab (ehem. Handelsname: Aduhelm) und dem Wissenschaftsskandal rund um gefälschte Studien, der die sogenannte „Amyloid-Hypothese“ zwischenzeitlich gehörig ins Wanken gebracht hat. Man könnte sagen: Die Pharmaindustrie muss dringend liefern. Und das tut sie nun, unterstützt durch einen Medien-Hype: Von „Jackpot“ und „Durchbruch“ ist hierzulande die Rede und „Endlich gewonnen“ titelt man euphorisch in den USA. Vor allem die Börse reagiert extrem positiv auf die Meldung und sieht beste Chancen auf einen Milliardenmarkt. Doch die Detail-Informationen, die im Rahmen der Veröffentlichung des Unternehmens Biogen und dessen japanischem Partner Eisei zu entnehmen sind, konterkarieren den tatsächlichen Studienerfolg empfindlich und bedürfen einer etwas neutraleren Einordnung.

Das Spiel mit der Hoffnung: Fraglicher Nutzen, der nicht ohne massive Nebenwirkungen auskommt

Gemäß der Meldung soll Lecanemab, wie alle anderen zuvor in Studien allerdings gescheiterten Antikörper die Amyloid-Last reduzieren, also die Protein-Ablagerungen zwischen den Nervenzellen –  und zwar um 27%  bei Alzheimer-Patient:innen im beginnenden Frühstadium. Das ist die News!

Aufgrund der Ergebnisse der Phase III-Studie, an der insgesamt 1795 Proband:innen mit einer leichten kognitiven Beeinträchtigung (MCI) aufgrund eines Morbus‘ Alzheimer teilnahmen – davon 900 „Verum“-Patient:innen“, also tatsächlich mit Lecanemab behandelte, und 895 „Placebo“-Proband:innen, also nur scheinbehandelte Patient:innen – will der Hersteller den Antikörper Lecanemab nun im Eilverfahren zulassen. Schon im Dezember soll die amerikanische Arzneimittelbehörde FDA eine beschleunigte Zulassung für den Wirkstoff erteilen und das Medikament umgehend auf den Markt kommen. Schließlich sei der Effekt von Lecanemab  „hochgradig statistisch signifikant“ gewesen, so die Hersteller. Auch sollen die Amyloid-Spiegel im Gehirn signifikant niedriger gewesen sein.

Doch auch die Nebenwirkungen kann man als höchst signifikant bezeichnen: So stellten sich bei 12,5 Prozent der Proband:innen Gehirnschwellungen ein und bei 17 Prozent zerebrale Blutungen – beides kann lebensbedrohlich sein. Es muss daher erlaubt sein, hier anzumerken, dass dies ein nicht zu unterschätzendes Risiko für Menschen ist, dem Betroffene mit gerade beginnender Demenz ausgesetzt werden sollen. Über eine Verbesserung der kognitiven Fähigkeiten der Patient:innen wird übrigens nichts berichtet.

Schließlich ist auch anzumerken, dass es abschließend in der Firmenmeldung heißt, „Lecanemab könne, wenn es zugelassen werde, möglicherweise das Fortschreiten der Alzheimer-Erkrankung verlangsamen und einen klinisch bedeutsamen Einfluss auf Kognition und Funktion (des Gehirns) haben“.

Diese konjunktivische Aussage erinnert sehr an die vormaligen Verlautbarungen zum gescheiterten Medikament Aducanumab, das übrigens ebenfalls von Biogen entwickelt worden war. Bei diesem Wirkstoff war die bremsende Wirkung auf den kognitiven Verfall mit 22 Prozent angegeben worden, bei Lecanemab sind es nun also 27 Prozent. Wie es mit Aducanumab weiterging, ist bekannt: Nach der höchst umstrittenen Zulassung in den USA war es in Europa gar nicht erst auf den Markt gekommen und verschwand auch in Amerika wieder sang- und klanglos, wie man einigen mageren Meldungen entnehmen konnte.

Die Gewissensfrage: Geht es um die Betroffenen oder um Gewinnmargen?

Dass unsere Gesundheit bzw. unsere Krankheiten – sei es Bluthochdruck, Krebs oder eben Alzheimer-Demenz – auch und vor allem ein weltweites Milliardengeschäft sind, sollte mittlerweile jeder aufgeklärte Mensch hinlänglich wissen. Nicht umsonst heißt dieser Industriezweig „Big Pharma“ und nicht umsonst geistern ad hoc zur Biogen-Meldung schon freudentaumelnde Prognosen der Börsen-Zeitungen über den News-Ticker: „Biogen + 40 Prozent, Morphosys + 20 Prozent: Börse feiert Alzheimer-Erfolg – Analysten rechnen mit Milliarden-Einnahmen“, titelt etwa die Börsen Online Redaktion am gestrigen 28.09.2022.

Medien, die sich mehr für die Patient:innen, deren Angehörige und die Nöte der Pflege interessieren, reagieren deutlich verhaltener: „Die Frage ist nur: hoffnungsvoll für die Patienten oder die Hersteller?“ fragt die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) ebenfalls in ihrer gestrigen Ausgabe in einem Kommentar, der das Vorgehen einer Eilzulassung als kommerziell motiviert sieht. „Für die Gesellschaft zählt aber nicht nur die Wirksamkeit. Ebenso wichtig ist die Frage: Rechtfertigt der Nutzen die Kosten? Denn das Geld, das für Medikamente ausgegeben wird, fehlt dann möglicherweise bei der Pflege und Betreuung der dementen Patienten. Beim gescheiterten Aducanumab war die Rechnung für die meisten augenfällig. So lagen die jährlichen Behandlungskosten anfänglich bei etwa 56 000 Dollar. Darin waren die Kosten für die regelmäßigen MRT-Untersuchungen zur Erkennung einer Hinschwellung noch nicht eingeschlossen“, schreibt die NZZ.

Die Frage nach dem „cui bono“, also dem „Wem nützt es?“ ist also durchaus berechtigt, wobei man den Wissenschaftler:innen absolut die besten Absichten unterstellen sollte. Aber Forschung kostet, stets und in allen Branchen, sehr viel Zeit und noch mehr Geld und die Pharmaunternehmen sind natürlich daran interessiert, die von ihnen finanzierte Forschung irgendwann mit einem „return on investment“ zu versehen. Wirtschaftlich verständlich, aber diesen Aspekt sollte man eben klar berücksichtigen.

Transkranielle Pulsstimulation im Kontext zu Lecanemab: Zweierlei Maß in der Beurteilung

An dieser Stelle muss es einmal deutlich ausgesprochen werden: Während die vergleichsweise neue,  nichtmedikamentöse Therapieform „Transkranielle Pulsstimulation“ klinisch nachweislich zu einer Verbesserung der kognitiven Fähigkeiten führt und gerade in einer ebenfalls placebo-kontrollierten und übrigens unabhängig finanzierten Studie (siehe hierzu: https://www.alzheimer-deutschland.de/aktuelles/kurzmeldungen/neue-daten-tps-therapie-sicher-gut-vertraeglich) den Nachweis der Sicherheit und Verträglichkeit für die Patient:innen ohne auch nur eine Gehirnschwellung oder Gehirnblutung erbrachte, mit teils höchster Skepsis, Polemik und tendenziösen Unterstellungen besprochen wird, wird der Wirkstoff Lecanemab nun empfangen wie der „heilige Gral“.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Die Transkranielle Pulsstimulation ist ein Behandlungsverfahren, dass nur nach entsprechendem neurologischen Vorbefund, nach Ausschluss diverser Kontraindikationen und genauer fachlicher Einschätzung Hand in Hand mit der jeweiligen Medikation des Patienten/der Patientin durchgeführt wird. Sie verfolgt schließlich auch einen ganz anderen Wirkungsansatz. Die Transkranielle Pulsstimulation ersetzt keine Medikation und erhebt deshalb darauf auch keinen Anspruch, wie mitunter missverständlich kommuniziert wird.

Dementsprechend sind die mit der TPS-Methode arbeitenden Ärztinnen und Ärzte ebenso erpicht darauf wie alle anderen, dass ihren Patient:innen mit tatsächlich (!) und nachweislich wirksamen Medikamenten geholfen werden kann – allerdings ohne frappante Nebenwirkungen und Schädigungen, die alles nur noch schlimmer machen könnten.

Im Fazit fasst es die Meinungsäußerung in der Neue Zürcher Zeitung besser und neutraler zusammen als wir es hier könnten. Sie schreibt zur „Causa Lecanemab“ zusammenfassend: „Damit ist nicht gesagt, dass das neue Biogen-Medikament Lecanemab das gleiche Schicksal (wie Aducanumab) erleiden muss. Aber die Zeichen deuten darauf, dass auch dieses Mittel nicht der heilige Gral bei der Alzheimertherapie wird. Möglicherweise könnte es ein erster Baustein in einer Kombinationstherapie werden. Denn beim Hirnzerfall spielen nicht nur die Amyloid-Klumpen eine Rolle, sondern viele weitere Faktoren. Statt auf immer neue Antikörper gegen Amyloid zu setzen, wäre es daher an der Zeit, bei der Entwicklung wirksamer Alzheimermedikamente einen breiteren Ansatz zu verfolgen.

 

Quellen (u. a.):

https://www.nzz.ch/meinung/lecanemab-biogen-lanciert-neues-alzheimermedikament-ld.1704876
https://www.boerse-online.de/nachrichten/aktien/biogen-40-prozent-morphosys-20-prozent-boerse-feiert-alzheimer-erfolg-20318183.html
https://www.gelbe-liste.de/neurologie/lecanemab-neue-alzheimer-therapie