Alzheimer – eine Krankheit macht Geschichte
In über 100 Jahren hat sich die Alzheimer-Krankheit von einem Randphänomen zu einem weltweiten Gesellschaftsproblem entwickelt. Mittlerweile sind viele mögliche Ursachen bekannt. Doch steht eine Heilung immer noch aus.
Die Geschichte der Alzheimer-Krankheit ist über 100 Jahre alt.
Sie beginnt 1901 mit der Einlieferung von Auguste Deter in die „Anstalt für Irre und Epileptische“ in Frankfurt am Main.
Die Patientin leidet unter Vergesslichkeit und Wahnvorstellungen.
Das Gesprächsprotokoll, das der zuständige Psychiater daraufhin anfertigt, schreibt Wissenschaftsgeschichte:
Es markiert den Forschungsbeginn einer Krankheit, die unter dem Namen des Psychiaters in die Medizin einging: Alois Alzheimer.
Schnell kam dem der Gedanke, dass es sich bei Frau Deter nicht um Altersdemenz handeln konnte – dafür war sie mit 51 Jahren einfach zu jung. „Präseniles Irresein“ lautete die vorläufige Diagnose.
Verschiedene Demenzen und ihre Ursachen
Der Begriff Demenz beschreibt ein Syndrom, ein Zusammentreffen mehrerer Symptome. Dazu gehören Defizite in emotionalen und sozialen, vor allem aber kognitiven Fähigkeiten. Die Ursachen dieser Symptome liegen zu Lebzeiten von Auguste Deter im Dunkeln, nur ihre Auswirkungen können festgehalten werden. Bei der später nach Alzheimer benannten Demenz sind es zunächst Störungen des Kurzzeitgedächtnisses. Im Laufe der Zeit verschwinden auch langfristige Inhalte, sodass Betroffene immer mehr Fähigkeiten und Fertigkeiten verlieren, bis sie dem Alltag nicht mehr gewachsen sind.
Heute weiß man, dass es mehrere Typen von Demenzerkrankungen gibt und dass vielfältige Ursachen in Frage kommen. Die Alzheimer-Demenz gehört neben der Frontotemporalen Demenz, der Lewy-Körperchen-Demenz und der Parkinson-Demenz zu den neurodegenerativen Erkrankungen, bei denen Nervenzellen zugrunde gehen. Häufig sind aber auch vaskuläre (gefäßbedingte) Demenzen. Darüber hinaus gibt es sekundäre Demenzformen, die zum Beispiel Folge einer Multiplen Sklerose oder einer Stoffwechselstörung sein können.
1903 – 1910: Organische Ursachen?
Als Alzheimer 1903 nach München wechselt, gibt es noch keine Klassifizierung psychischer Störungen. Auch ist die organische Ursächlichkeit geistiger Krankheiten noch längst nicht allgemein akzeptiert. Von 1903 bis 1906 bleibt Auguste Deter in der Frankfurter Anstalt, doch Alzheimer verfolgt aus der Ferne ihren Zustand, der sich zunehmend verschlechtert. 1906 stirbt sie, „völlig verblödet“, wie Alzheimer notiert.
Als er Deters Gehirn im Mikroskop untersucht, findet er zugrunde gegangene Nervenzellen mit Bündeln faseriger Strukturen – den Neurofibrillen – sowie Ablagerungen außerhalb der Zellen, so genannte senile Plaques Für Alzheimer bestätigt das seine Theorie, wonach Geisteskrankheiten organische Ursachen haben müssen. 1907 veröffentlicht er eine Abhandlung „über eine eigenartige Erkrankung der Hirnrinde“, doch erst später setzt sich die Meinung durch, bei Deter habe es sich um eine neue Art von Krankheit gehandelt. 1910 führt das „Lehrbuch der Psychiatrie“ diese Form zum ersten Mal unter dem Namen „Alzheimersche Krankheit“.
Die 1970er und 1980er Jahre: Erste Initiativen, erster Streit
Bis Anfang der 1970er-Jahre bleiben die Mechanismen ungeklärt, doch wird deutlich, dass die Alzheimer-Krankheit altersabhängig zunimmt. Sie ist keineswegs eine seltene Erkrankung jüngerer Patienten, wie noch Alois Alzheimer selbst geglaubt hatte. Befürchtungen kommen auf, dass der demografische Wandel – immer mehr ältere, immer weniger junge Menschen – zu einer Explosion der Patientenzahlen führen könnte. Sie bringen die USA schon 1974 dazu, das Nationale Institut für Alterung (NIA) zu gründen. 1976 identifiziert Robert Katzman, Pionier der Alzheimer-Forschung, die Alzheimer-Krankheit als die mit 60 Prozent der Demenzen am weitesten verbreitete Demenzerkrankung überhaupt. 1980 wird in den USA die erste Alzheimer-Gesellschaft der Welt (www.alz.org) gegründet. Vier Jahre später beginnt die Förderung eines Netzwerks aus Alzheimer-Zentren. In Deutschland gibt es zu dieser Zeit weder einen nationalen Aktionsplan noch Gesellschaften oder Institute.
1984 veröffentlichen George Glenner und Caine Wong von der University of California in San Diego Ergebnisse, wonach ein Peptid namens Beta-Amyloid Hauptbestandteil der Plaques ist – der erste Hauptverdächtige für die Auslösung des Nervenzell-Schadens. Drei Jahre später zeigen Konrad Beyreuther, Benno Müller-Hill und ihre Mitarbeiter von der Universität Köln, dass das Beta-Amyloid-Peptid durch Spaltung aus einem großen Vorläufer-Protein entsteht, dem Amyloid-Precursor-Protein (APP).
Die Rolle, die APP im gesunden Körper spielt, ist bis heute nicht vollständig geklärt. Man nimmt an, dass es an der Aktivität von Synapsen beteiligt ist und für das Überleben von Neuronen wichtig ist. Wird APP auf eine bestimmte Weise enzymatisch gespalten, kann es zur Freisetzung des Beta-Amyloid-Peptids kommen. Dieses kann sich zu Plaques verklumpen. Man nimmt an, dass ein Zwischenprodukt bei der Bildung der Plaques, die so genannten Oligomere, benachbarte Nervenzellen und vor allem Synapsen schädigen. Die „Beta-Amyloid-Hypothese“ findet über die Jahre immer mehr Anhänger. „Baptisten“ werden sie in der Forscherszene genannt.
1986 publizieren Inge Grundke-Iqbal und Kollegen vom staatlichen New Yorker Institut für Grundlagenforschung zu Entwicklungsstörungen (OPWDD) eine sehr interessante Arbeit. Nach ihren Erkenntnissen ist ein mit bestimmten Zellskelett-Proteinen, den Mikrotubuli, verbundenes Protein namens „Tau“ Bestandteil der Neurofibrillen, der fädigen Strukturen innerhalb der Zellen. Mit Tau erscheint der zweite Hauptverdächtige. Die „Tau-Hypothese“ wird von den „Tauisten“ befürwortet. Laut Eckhard und Eva-Maria Mandelkow vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen in Bonn spielt Tau im gesunden Körper eine wichtige Rolle: „Es stabilisiert die Mikrotubuli, die in Nervenzellen besonders wichtig für Transportvorgänge sind. Bei der Alzheimer-Krankheit fällt Tau von den Mikrotubuli ab, verklumpt zu Neurofibrillen, und die Mikrotubuli werden instabil.“
Weitere Ursachen kommen ins Spiel
Das gemeinsame Auftreten von Plaques und Neurofibrillen ist charakteristisch für die Alzheimer-Krankheit. Der Streit darum, welches von beiden Ereignissen die Ursache ist, prägt die Forschung über Jahre. Für Luís Maia vom Hertie-Institut für klinische Hirnforschung in Tübingen ist er jedoch mittlerweile so gut wie beigelegt: „Die Hinweise haben sich dahingehend verdichtet, dass die Beta-Amyloid-These wahrscheinlicher erscheint. Aber ganz trennen lassen sich die beiden Ereignisse nicht
Allerdings ist bekannt, dass die kognitiven Defizite bei Alzheimer eng mit der Menge und der Verteilung von Tau-Fibrillen zusammenhängen. Eva-Maria Mandelkow: „Das weist darauf hin, dass Tau am Absterben der Neuronen beteiligt ist.“ Heute geht es darum herauszufinden, ob Beta-Amyloid der Auslöser dafür ist und ob noch andere Faktoren eine Rolle spielen, zum Beispiel Entzündungsreaktionen im Gehirn. Auch ist nicht geklärt, wodurch die zunächst harmlosen Eiweißstoffe pathologisch werden. Wir alle produzieren von Anfang an Amyloid, schon als Baby im Mutterleib. Die Produktion allein führt nicht zu einer Alzheimer-Pathologie – sie ist ein normaler Vorgang. Vermutlich erhöht sich jedoch im fortgeschrittenen Alter die Chance, dass Beta-Amyloid verklumpt und Plaques bildet.
Doch laut Eckhard Mandelkow ist die Alzheimer-Demenz „keine Krankheit, die nur auf Tau oder Beta-Amyloid beruht“. Es gibt viele andere mögliche Gründe, die „irgendwie ein bisschen damit zu tun“ haben. „Die Alzheimer-Demenz ist eine multifaktorielle Krankheit. Durch Bevölkerungsstudien hat sich herausgestellt, dass es mehrere Faktoren gibt, die das Risiko für die Alzheimerkrankheit erhöhen. Beispiele sind hoher Blutdruck und Übergewicht.“ Sie führen zu Gefäßschädigungen und infolgedessen zu einer verminderten Durchblutung des Gehirns. Dadurch wird die Energieversorgung der Nervenzellen beeinträchtigt. Mandelkow: „Daher sind Empfehlungen einer gesunden Lebensführung eigentlich das Beste, was man machen kann.“
An der Alzheimer-Entstehung sind außerdem Entzündungsprozesse beteiligt, ebenso wie Störungen der Mitochondrien, der „Kraftwerke“ der Zellen. Neben diesen Faktoren sind auch genetische Risikofaktoren und gewisse epigenetische Einflüsse nachgewiesen worden. Veränderungen an einzelnen Genen, die zur so genannten familiären Form der Alzheimer-Demenz führen, sind allerdings nur bei weniger als einem Prozent der Patienten verantwortlich.
Gesichert ist heute vor allem eines. Eckhard Mandelkow drückt es so aus: „Das Altern ist der wichtigste Risikofaktor. Aber das Risiko kann gesenkt werden: Was gut ist fürs Herz, ist auch gut fürs Gehirn.“
In den Neunzigern kommt Schwung in die Forschung
1987 entsteht Hoffnung auf Besserung. In den USA läuft der erste Test eines Medikaments gegen Alzheimer-Symptome an: Tacrin beruht auf der Modulation eines Neurotransmitters (Acetylcholin) und seiner Rezeptoren. Es gleicht den Mangel an Acetylcholin aus, der bei Alzheimer durch das Absterben cholinerger Neuronen entsteht. Die Wirksamkeit ist allerdings gering. 1993 kommt Tacrin auf den Markt. Unabhängig davon veröffentlichen im gleichen Jahr Allen Roses und Mitarbeiter von der Duke University in North Carolina eine wichtige Arbeit: Sie weisen nach, dass APOE-e4, eine Form des Apolipoprotein-E-Gens auf Chromosom 19, das Risiko erhöht, an Alzheimer-Demenz zu erkranken.
Im Jahr darauf bekommt die Krankheit ein neues Gesicht, als sich Ronald Reagan mit seiner Diagnose von der Öffentlichkeit verabschiedet.
Deutschland hinkt der Entwicklung hinterher. Es gibt bis Ende des Jahrhunderts zwar Forschungsförderung, aber immer noch keine nationale Strategie. 1995 wird mit der Alzheimer Forschung Initiative e.V. der erste private Verein gegründet, der Alzheimer-Forschung fördert. 2000 folgt die Gründung der Hans-und-Ilse-Breuer-Stiftung. 2009 wird das „Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen“ mit Hauptsitz in Bonn gegründet, eine außeruniversitäre Forschungseinrichtung mit Teilinstituten an zehn Standorten. Im selben Jahr gibt Alzheimer’s Disease International (ADI), Dachverband der Alzheimer-Gesellschaften weltweit, den ersten „Welt-Alzheimerbericht“ heraus. Er zeichnet ein düsteres Bild.
Demenz: zunehmende gesellschaftliche und volkswirtschaftliche Relevanz
Wurden bis 2010 35,6 Millionen Demenzkranke prognostiziert, verdoppelt sich die Zahl laut Hochrechnungen alle 20 Jahre – bis 2050 auf 115,4 Millionen. Der Anstieg ist nicht nur dem demografischen Wandel geschuldet, sondern auch der erhöhten Aufmerksamkeit: Sie erhöht die Wahrscheinlichkeit einer Alzheimer-Diagnose, denn diese schafft erst die Voraussetzungen für den Zugang zu Behandlung und Pflege.
Ein kostenintensives Unterfangen. 2010 kosteten Demenzerkrankungen weltweit 604 Milliarden Dollar. Laut Schätzung des Welt-Alzheimerberichts von 2010 werden die Kosten bis 2030 um 85 Prozent ansteigen. Zur Senkung ist vor allem eine möglichst frühzeitige Diagnose vonnöten.
Dementsprechend hatte der Bericht 2011 „Die Vorteile frühzeitiger Diagnose und Intervention“ zum Gegenstand. Und so ist nach 106 Jahren die Alzheimer‘sche Krankheit von einem Randphänomen zu einem Problem geworden, das in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Diese beginnt nun, sich mit den Auswirkungen auseinanderzusetzen. Der Bericht von 2012 behandelt das Stigma, das mit der Alzheimer-Diagnose einhergeht.
Die Therapie der Zukunft: so multifaktoriell wie die Krankheit selbst
Was die diagnostischen Möglichkeiten angeht, hat Eva-Maria Mandelkow Positives zu vermelden: „Bei bildgebenden Verfahren wie MRT und PET tut sich unheimlich viel.“ Es gibt bereits Möglichkeiten, abgelagertes Amyloid mit PET-Verfahren sichtbar zu machen. Eine Methode zur Darstellung von Tau-Ablagerungen wird gerade entwickelt.
Eine ursächliche Behandlung hingegen wird es so schnell nicht geben, gibt Eckhard Mandelkow zu bedenken. „Das geht deshalb nicht, weil die Alzheimer-Krankheit multifaktoriell ist. So ähnlich wie bei der Krebsbehandlung auch wird es nicht nur ein Medikament alleine geben, sondern verschiedene mit unterschiedlichen Ansätzen.“
Eine gute Prävention sieht laut Hans Förstl, Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Klinikums Rechts der Isar, München, unter anderem so aus: „Sehr wichtig ist es, das Gehirn anzuregen. Nicht mit stupidem Gehirnjogging, sondern mit allem, was den Menschen erfreut.“ Bei bereits bestehender Demenz können so genannte Antidementiva helfen: „Medikamente, die die geistige Leistungsfähigkeit etwas verbessern.“ Was häufig vernachlässigt werde, sei die Behandlung von Begleiterkrankungen, die zusätzlich die geistige Leistungsfähigkeit beeinträchtigen (siehe: Morbus Alzheimer – Prof. Hans Förstl).
Mit neueren Wirkstoffen wird heute versucht, die Alzheimer-Ablagerungen ganz zu verhindern. Das funktioniert tatsächlich – im Tierversuch. Hans Förstl: „Man vermutet derzeit, dass es notwendig sein wird, diese Interventionen bei Menschen zu versuchen, die noch lange nicht dement sind. Um zu überprüfen, ob das möglich, ethisch vertretbar und wirksam ist, werden wahrscheinlich noch 20 Jahre intensiver Forschung nötig sein.“
Update Dezember 2021 von Alzheimer-Deutschland: Wie bekannt, ist man in der Pharmakologie bis heute nicht so weit, ein wirksames Medikament gegen Alzheimer-Demenz und andere Formen der Demenz präsentieren zu können. Das in diesem Sommer in den Medien viel besprochene Medikament Aduhelm (Wirkstoff: Aducanumab) scheint – abgesehen von der äußerst merkwürdigen Zulassungslage – höchst fragwürdig zu sein. Siehe hierzu auch: https://www.alzheimer-deutschland.de/aktuelles/beitraege/erstes-alzheimer-medikament-aduhelm-zugelassen
Mit der Transkraniellen Pulsstimulation (TPS) gibt es nun die weltweit einzige zugelassene und für die Patient:innen auch verfügbare Therapie zur kausalen Behandlung der Alzheimer-Demenz und anderen Formen der Demenz.
Wichtige Hinweise:
Erschienen ist „Alzheimer – eine Krankheit macht Geschichte“ bei https://www.dasgehirn.info und wir danken Chefredakteur Arvid Leyh für die freundliche Genehmigung. Diese Website sei übrigens jedem empfohlen, der/die sich näher mit dem Wunderwerk Gehirn beschäftigen möchte – das wissenschaftliche Redaktionsteam der Neurowissenschaftlichen Gesellschaft e. V. vom Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin bietet eine immense Bandbreite an Informationen, Reportagen und Filmen.
Ein besonderes Highlight dabei – das begehbare Gehirn mit zahlreichen Erklärungen und Infos: https://3d.dasgehirn.info/
Der Autor:
Wir danken Dr. Jochen Müller, Biologe mit Promotion in medizinischen Nervenwissenschaften und freier Wissenschaftsjournalist, Berlin, für diesen Artikel – hier geht es zu seiner Homepage: https://jochen-mueller.net .