Forschung untersucht neurologische Folgen des Corona-Virus und Post-Covid-Erkrankungen.

In immer mehr Studien untersuchen Forschende den Einfluss des Corona-Virus auf das Gehirn und die Auswirkungen auf Betroffene, die an Long-Covid bzw. Post-Covid-Erkrankungen leiden.

Sogar ein eigener Begriff wurde zwischenzeitlich dafür geschaffen: Neuro-Covid werden die Krankheitsbilder genannt, die neurodegenerative Symptome aufzeigen. Auf dem 8. Kongress der Europäischen Akademie für Neurologie (EAN), der vom 26.06. – 28.06.2022 in Wien stattfand, stellten Wissenschaftler:innen aus Dänemark die Ergebnisse vor, die sie von mehr als der Hälfte der dänischen Bevölkerung (exakt: 919.731 Menschen) ausgewertet hatten. Davon waren 43.375 Personen an einer Corona-Infektion erkrankt gewesen. Ihr Fazit: Die zuvor an Corona erkrankten Menschen hatten ein 3,5-fach erhöhtes Alzheimer-Risiko, das Parkinson-Risiko stieg um das 2,6-Fache und die Gefahr, einen ischämischen Schlaganfall zu erleiden, nahm um das 2,7-Fache zu. Auch Gehirnblutungen stiegen mit Faktor 4,8 an (mehr Informationen dazu: https://www.eurekalert.org/news-releases/956611).

Dass SARS-CoV-2 zu neurologischen Beeinträchtigungen im Gehirn führen kann, ist mittlerweile hinlänglich bekannt. Und etwa ein Drittel aller an Post-Covid erkrankten Menschen leidet an verschiedensten neurologischen Beeinträchtigungen, deren Dauer und Ausmaß noch nicht ermessen werden kann. Wir hatten darüber bereits – auch in Bezug auf die Transkranielle Pulsstimulation (TPS) – berichtet.

Des Themas Corona in der Neurologie hat sich unser Gast-Autor, der Karlsruher Neurologe Dr. med. Michael H. Stienen, sehr profund angenommen und wir freuen uns, seinen nachfolgenden Beitrag mit Ihnen teilen zu dürfen:

Wie gesund ist mein Gehirn? Thema: Long- und Post-COVID

Welche Schäden und Beeinträchtigungen COVID über die Akutkrankheit hinaus verursacht, ist ein wichtiges Thema. Nun haben wir erste Erkenntnisse, die Erstaunliches offenbaren.

Was ist Long- und Post-COVID?

Es handelt sich gemäß der WHO-Definition bei Long- und Post-COVID um sehr unterschiedliche, anhaltende oder auch neu auftretende gesundheitliche Beschwerden nach einer SARS-CoV-2-Infektion, die betreffs Long-COVID länger als 4 Wochen nach der Akutphase oder bei Post-COVID länger als 3 Monate vorhanden sind. Dies kann nicht nur bei milder und moderater Akutkrankheit, sondern auch nach asymptomatischen Infektionen auftreten. Gemäß des Nationalen Aktionsplans für das Chronic-Fatigue-Syndrom (CFS) und Long-COVID, ein Forum von Betroffenen in Deutschland, das sich an die Politik wendet und von Forschungsstellen, z. B. der Charité in Berlin, unterstützt wird, gehen wir von einem Anteil von 10 bis 15 % der Infizierten aus. Wir kennen inzwischen mehr als 200 verschiedene Symptome, die im Zusammenhang mit diesem Krankheitsbild beschrieben werden. Die Hauptsymptome sind ein postvirales Fatigue, d. h. eine krankhafte Erschöpfung, Atemnot und neurokognitive Störungen im Sinne von Konzentrations- und Gedächtnisstörungen, und zudem eine ausgeprägte physische und psychische Belastungsintoleranz. Dies wird “Post-Exertionelle Malaise” (PEM) genannt. Betroffene sind oft nicht mehr in der Lage, in gewohntem Umfang ihren Berufs- und Alltagstätigkeiten nachzugehen, ohne dass sich ihr Gesundheitszustand dadurch zwischenzeitlich verschlechtert. Deswegen sind übliche aktivierende Behandlungskonzepte hier völlig ungeeignet und fehlgeleitet. Gemäß einer Studie in den USA in der 1. Welle von September bis November 2020 waren nach 6 Monaten 45 % der Long-COVID-Erkrankten nur in der Lage, Teilzeit zu arbeiten, und 22 % waren noch vollständig arbeitsunfähig. Erste Daten aus Israel deuten nun (04/2022) erfreulicherweise darauf hin, dass sich diese Folgeerkrankungen nach vollständiger Impfung und bei der Omikron-Variante deutlich an Zahl und Schwere abgemindert hat. Eine dänische Studie zeigte, dass Omikron im Vergleich zu Delta eine um 36 % erniedrigte stationäre Behandlungsbedürftigkeit aufweist.

Hirnleistungsstörungen nach leichtem COVID?

Die allermeisten COVID-Erkrankungen sind leicht und benötigen keine stationäre Behandlung. In Deutschland in der 2. Welle im Jahreswechsel 2020/2021 waren 77 % mild betroffen und 9,7 % hospitalisiert. Bei Älteren ab 80 Jahren ergaben sich erhebliche Unterschiede: nur 45 % hatten einen leichten Krankheitsverlauf, während 35 % einer Krankenhausbehandlung bedurften.

Eine US-amerikanische Studie untersuchte nun den Verlauf der leichten COVID-Fälle in einem guten Studiendesign vorausschauend an 72 Erwachsenen zwischen 22 bis 65 Jahren in Texas im Zeitraum von Januar bis April 2021 mittels standardisierter Hirnleistungstestungen vergleichend durchschnittlich 3,8 Monate nach der akuten Diagnosestellung. Insgesamt verzeichneten 40 % Beeinträchtigungen der Hirnleistungen, am auffälligsten waren exekutive Störungen, Störungen der Aufmerksamkeit und der Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit, wobei Männer deutlich häufiger betroffen waren. Dies passt zu bekannten Erkenntnissen, dass Entzündungsproteine (Zytokine) besonders die im frontalen Hirn arbeitenden Netzwerke, die mittels hoher Raten mit Dopamin operieren, hemmen. Bemerkenswert ist, dass Jüngere ebenfalls etwas häufiger beeinträchtigt waren, was bedeutet, dass eine Subgruppe Jüngerer für Hirnleistungsstörungen und deren psychosoziale Folgen anfälliger, also “verletzlicher”, ist. Einschränkend ist anzumerken, dass die Daten leider ohne eine gesunde Kontrollgruppe zum Vergleich sind.

Kognitive Störungen bei Älteren nach einem Jahr?

Eine Kohortenstudie in China bei 3.233 COVID-19-Überlebenden im Alter von durchschnittlich 67 Jahren wurden im Anschluss an die stationär behandlungsbedürftige Akutkrankheit von Februar bis April 2020 nach sechs Monaten und einem Jahr betreffs der Hirnleistungen nachuntersucht. Vorbestehende kognitive Störungen, neurologische und andere schwere Krankheiten waren Ausschlusskriterien. Im Verlauf wurden die Ergebnisse leichter und schwerer COVID-Fälle mit einer nicht betroffenen Kontrollgruppe verglichen. Die gesamte Häufigkeit von neurokognitiven Störungen (Hirnleistungsstörungen) war nach 12 Monaten 12,4 %. Sehr bemerkenswert war zudem, dass milde COVID-Fälle sich nicht von den Kontrollfällen unterschieden. Bei den schwer Betroffenen entwickelten jedoch nach sechs Monaten 10 % eine Demenz und 26,5 % leichte kognitive Störungen, dies stieg nach einem Jahr weiter an auf 15 % mit Demenz, die Zahl der leicht Betroffenen blieb gleich. Dies bedeutet für schwer von COVID betroffene ältere Menschen eine über 7-fache Risikozunahme für jedwede Hirnleistungsstörungen und sogar eine 19-fache Risikozunahme für einen fortschreitenden Hirnleistungsabbau. Dies bedeutet weiter, durchaus beunruhigend, dass nicht nur mehr als 40 % der Älteren nach einem Jahr beeinträchtigt sind, sondern zu einem Teil sogar einen fortschreitenden hirnabbauenden Prozess (Neurodegeneration) erleiden.

Hirnabbau nach Sars-CoV2-Infektion und COVID?

Eine andere Studie ging der Frage nach, ob es auch bei leichter Betroffenen einen maßgeblichen krankhaften Hirnabbau nach COVID gibt. Als Nebenuntersuchung einer bereits länger laufenden Untersuchung an Älteren der UK Biobank, England, wurde unterschieden, welche Auswirkungen ein Sars-CoV2-Infekt haben kann, auch ohne dass die Menschen eine Krankheit bemerkten. Von 785 Beteiligten im Alter von 51 bis 81 Jahren wurden zwei Bildgebungen des Gehirns im Abstand von drei Jahren zwischen den Fällen (n=401), die eine Sars-CoV2-Infektion hatten, und Nichtinfizierten (n=384) verglichen. Es wurden sehr überraschende Ergebnisse gefunden. Die Erkrankten, davon nur 3,7 % schwer betroffen und stationär behandelt, zeigten (1.) eine größere Reduktion der grauen Nervendicke in den Gebieten des orbitofrontalen und im Bereich des parahippocampalen Hirnes; (2.) ausgeprägtere Zeichen für Gewebezerstörung in Regionen, die funktionell mit dem primären Riechzentrum vernetzt sind; und (3.) eine größere Minderung des gesamten Hirnvolumens. Dieser Hirnabbau korrelierte unzweifelhaft mit einer SARS-CoV-2-Infektion auch mit größerem Hirnleistungsabbau im Vergleich der beiden Untersuchungszeitpunkte. Die Ergebnisse waren unverändert, nachdem die hospitalisierten schweren COVID-Fälle von der statistischen Auswertung herausgenommen wurden. Diese Hirnveränderungen bestätigen zudem eine vorbekannte Erkenntnis, dass sich die Erkrankung nämlich oft über die Nase und das Riechzentrum zum Gehirn ausbreitet, also Folge von Entzündungsprozessen vor allem dort ist, die bekanntermaßen sehr oft mit Riechstörungen einhergehen.

Wer sich noch umfassender und im Detail über Sars-COV-2 in der Neurologie informieren möchte, dem sei Dr. Stienen’s große Zusammenfassung in seinem eigenen Blog empfohlen:

https://praxis-drstienen.de/sars-cov-2-covid-19-und-neurologie/

Ob diese beträchtlichen Störungen heilbar sind, andauern oder sogar im Verlauf weiter zunehmen, bleibt bisher unklar. In Anbetracht der vorher beschriebenen Studien muss jedoch zumindest bei einem Teil mit bleibenden Folgen und sogar einem Fortschreiten des Hirnleistungsabbaus bei weitergehender Hirnvolumenminderung gerechnet werden.

Über Dr. med. Michael H. Stienen

Dr. med. Michael H. StienenDr. med. Michael H. Stienen, Facharzt für Neurologie, hat die Schwerpunkte Schluckstörungen und schluckstörungsbedingte Folgeerkrankungen sowie Neurorehabilitation.

Er war Chefarzt im Bereich Neurorehabilitation in verschiedenen Kliniken und betreibt seit Herbst 2017 in Karlsruhe eine neurologische Privatarztpraxis und ist als Gutachter tätig.

Seine Website-Adresse lautet:
https://praxis-drstienen.de und per E-Mail erreichen Sie ihn unter [email protected]