Patient mit seltener Genmutation könnte weiterer Schlüssel zum Verständnis von Alzheimer sein

Gegenwärtig gibt es noch kein bekanntes Heilmittel für Alzheimer-Demenz. Dies ist zumindest teilweise auf unser begrenztes Verständnis der zugrunde liegenden Ursachen und Wirkungsprozesse zurückzuführen.

Ein Durchbruch könnte jedoch dank der Entdeckung an einem Patienten, der durch eine seltene genetische Mutation vor der vererbten Form der Alzheimer-Krankheit geschützt ist, in nähere Reichweite rücken. Die Funktion dieser speziellen Genmutation eröffnet jedenfalls neue Perspektiven auf die Mechanismen der Alzheimer-Erkrankung.

Einige Menschen tragen ein erhöhtes Risiko, an Alzheimer zu erkranken, insbesondere wenn sie die sogenannte „Paisa“-Mutation in sich tragen. Doch es scheint, dass eine neu identifizierte Mutation eines anderen Gens möglicherweise die Manifestation der Krankheit verhindern oder zumindest verzögern kann. Diese Erkenntnis stammt nun von Wissenschaftlern der Harvard Medical School, der Universität von Antioquia in Kolumbien und des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf.

Gehäufte Alzheimer-Erkrankungen in frühen Jahren in bestimmten Gebieten Kolumbiens.

In den teilweise isolierten Bergdörfern des nordwestlichen Kolumbiens tritt Alzheimer in einer frühen Lebens-Phase auf – eine Erscheinung, die nirgendwo sonst auf der Welt so konzentriert beobachtet wird. In diesen Gemeinschaften am Fuße der Anden tragen viele Menschen eine bestimmte Genmutation namens „Paisa“ in sich. Diese Menschen stammen alle von baskischen Einwanderern ab, die vor über 250 Jahren in das Land kamen und die Mutation mit sich brachten. Wenn beide Eltern diese Mutation aufweisen, wird auch ihr Kind davon betroffen sein. Ist nur ein Elternteil Träger der Mutation, so beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind sie erbt, 50 Prozent.

Obwohl Alzheimer meist erst in fortgeschrittenem Alter auftritt, manifestieren sich bei Menschen, die Träger der sogenannten Paisa-Mutation sind, bereits im Durchschnittsalter von 44 Jahren Symptome der Krankheit. In der Regel sterben sie bereits etwa im Alter von 60 Jahren an den Auswirkungen der Demenz.

Studie identifiziert Genmutation, die möglicherweise vor Alzheimer schützen könnte.

Die Wissenschaftler:innen stießen auf einen Patienten mit der Paisa-Mutation, der einen außergewöhnlichen Krankheitsverlauf aufwies, der vollkommen untypisch für diese genetische Form von Alzheimer ist. Dieser Patient entwickelte erst im Alter von 72 Jahren eine leichte Demenz und verstarb dann im Alter von 74 Jahren. Dies ist Jahrzehnte später als der übliche Ausbruch der Demenz bei den meisten Trägern dieser Mutation.

Es wurde festgestellt, dass der Mann eine neuartige, seltene Variante des sogenannten Reelin-Gens besaß. „Reelin“ ist ein Protein, das eine Schlüsselrolle bei der Regulierung der Entwicklung und Funktion von Gehirnzellen spielt. In weiteren Untersuchungen fanden die Forscher heraus, dass diese spezielle Reelin-Genvariante einen Schutz vor der Zerstörung von Gehirnzellen bietet, indem sie einem Hauptmechanismus der Alzheimer-Entstehung entgegensteuert: der Ablagerung des Tau-Proteins in den Nervenzellen.

„Die schützende Genvariante, die in dieser Studie beschrieben wird, eröffnet eine neue Sichtweise auf das Reelin-Protein und die Entstehung von Alzheimer. Die Tatsache, dass ein Gen der Entwicklung der Alzheimer-Krankheit schützend entgegenwirkt, kann eine wichtige Grundlage für zukünftige Therapiestudien bilden“, sagt der beteiligte Forscher Diego Sepulveda-Falla vom Institut für Neuropathologie des Uniklinikums Hamburg-Eppendorf.

Die Forschenden stellen klar, dass sie nicht vollständig ausschließen können, dass andere Faktoren, einschließlich möglicher zusätzlicher Genvarianten, zur Resilienz des Patienten gegenüber Alzheimer-Symptomen beigetragen haben könnten. Dennoch weisen ihre experimentellen Ergebnisse stark auf die sog. Reelin-COLBOS-Variante als bedeutenden Faktor hin.

Das Forschungsteam beabsichtigt jetzt, ihre internationale Zusammenarbeit fortzusetzen mit dem Ziel, weitere geschützte Patienten innerhalb dieser kolumbianischen Familien zu identifizieren und aus jedem ungewöhnlichen Fall wertvolle Erkenntnisse zu gewinnen. Darüber hinaus arbeiten sie an der Entwicklung von Behandlungsmethoden, die speziell auf den neu entdeckten Schutzmechanismus abzielen.

Quelle:

https://www.nature.com/articles/s41591-023-02318-3