Neues Alzheimer-Medikament wird kontrovers diskutiert
Millionen von Alzheimer-Demenz Betroffenen warten seit vielen Jahren hoffnungsvoll auf ein Medikament, dass der Krankheit begegnen kann. Dementsprechend hoch war der Hype bereits Ende letzten Jahres um einen Wirkstoff namens Lecanemab, der in klinischen Studien je nach Lesart leichte Verbesserungen bei beginnender und leichter Alzheimer-Demenz zeigen konnte. Die handelnden Pharmaunternehmen hinter Lecanemab erhielten nun am vergangenen Freitag, den 06. Januar 2023, von der amerikanischen Behörde FDA (Food and Drug Adminstration) in einem Eilverfahren die Zulassung für das Medikament in den USA.
Die internationale Resonanz ist entsprechend riesig. Von „Durchbruch“, „Meilenstein“ und „Zeitenwende“ ist mitunter die Rede. Doch die Kehrseite der vermeintlich glänzenden Medaille findet sich in den weiteren Details, denn auch die Nebenwirkungen sind nicht zu unterschätzen.
Grund genug also, dass auch wir für unsere Leserinnen und Leser einen objektiven Blick auf Lecanemab und dessen Hintergründe werfen, um die Fakten einzuordnen. Dem sei vorangestellt, dass auch wir und all jene Ärzt:innen, die mit der Transkraniellen Pulsstimulation arbeiten, ein wirksames Medikament ebenso begrüßen würden wieder jedermann. Schließlich ist die TPS eine Therapieform, die additiv zur Medikation angewandt wird – aber begrüßen könnte man ein Medikament guten Gewissens und vorbehaltslos eben nur, wenn es denn halbwegs so sicher und so nebenwirkungsfrei für die Patient:innen wäre wie etwa die Transkranielle Pulsstimulation.
Was ist Lecanemab überhaupt?
Lecanemab ist ein humanisierter monoklonaler Antikörper. Antikörper sind Proteine aus der Klasse der Globuline, die als Schutzreaktion vom Immunsystem gegen das Eindringen von bestimmten Stoffen (sog. Antigenen) gebildet werden. Im Falle von Lecanemab wurde die humanisierte Version aus einem Maus-Antikörper mit der Bezeichnung „mAB158“ entwickelt. Der Wirkstoff soll zu einer passiven Immunisierung bei den Betroffenen führen können, da er Protofibrillen zu erkennen und Ablagerungen von Beta-Amyloiden an den Nervenzellen zu verhindern vermag – so zeigte sich jedenfalls zunächst in Tierversuchen an Mäusen. Diese Einlagerungen und Ablagerungen führen gemäß der allerdings heute wieder umstrittenen „Amyloid-Hypothese“ zur Alzheimer-Erkrankung.
Lecanemab: Die Studie und ihre Ergebnisse.
Der Wirkstoff Lecanemab war in den vergangenen 10 Jahren in klinischen Studien mit mehreren hunderten Teilnehmenden untersucht worden. Im vergangenen November war dann eine sogenannte Phase-III-Studie mit rund 1.795 Proband:innen zu dem Ergebnis gekommen, dass der Wirkstoff das Fortschreiten der Alzheimer-Erkrankung eindämmen könne. Phase-III-Studien sind klinische Studien, bei denen ein Arzneistoff an einem größeren Patientenkollektiv erprobt wird, um herauszufinden, ob sich die Wirksamkeit und auch die Unbedenklichkeit (!) bei vielen unterschiedlichen Patient:innen nachweisen lässt.
Die Hälfte der Teilnehmer:innen der Studie, allesamt an beginnender und milder Alzheimer-Demenz erkrankt, erhielten über 18 Monate hinweg im Abstand von zwei Wochen eine Dosis Lecanemab mit 10 Milligramm je Körpergewicht verabreicht. Die andere Hälfe erhielt ein Placebo, also eine wirkstofffreie Infusion. Zu Kontrolle wurde während der Studie unter anderem der Schweregrad von kognitiven und funktionellen Beeinträchtigungen und der Beta-Amyloid-Spiegel im Gehirn erhoben.
Im Ergebnis zeigte sich gemäß der forschenden Unternehmen, die den Wirkstoff untersuchen ließen, eine moderate Verzögerung des Krankheitsverlaufs um 27 Prozent in der Verum-Gruppe (also jener Patient:innen, die den Wirkstoff tatsächlich erhalten hatten) gegenüber der Placebo-Gruppe. Dies ist statistisch signifikant, also auffällig genug, um nicht als Zufall bewertet zu werden. Allerdings ist noch nicht klar, so geben die Lecanemab-Forschenden zu, inwiefern und inwiefern die Patient:innen den Unterschied im Alltag wirklich bemerken. Unbekannt ist auch, wie lange der Effekt anhält.
Offene Diskussion: Wie viele Nebenwirkungen sind vertretbar?
Doch Lecanemab, wie gesagt nur bei beginnender Alzheimer-Demenz erprobt, hat auch auffällig viele und ebenfalls signifikante Nebenwirkungen. So traten bei 12,5 Prozent der Proband:innen Gehirnschwellungen auf und bei 17 Prozent entstanden zerebrale Blutungen, was lebensbedrohlich sein kann.
Zu Todesfällen soll es gemäß der forschenden Unternehmen in der Studie nicht gekommen sein. Doch Ende Dezember 2022 erschien im Fachmagazin „Science“ ein Beitrag, wonach möglicherweise drei Todesfälle im Zusammenhang mit der Therapie vorgekommen seien. In diesem Artikel wurde moniert, dass diese Fälle nicht kommuniziert worden waren und dies ein grobes Versäumnis bezüglich der meldungspflichtigen Sicherheitsdaten sei. Auch andere renommierte Fachblätter, u. a. das «New England Journal of Medicine», forderten zunächst weitere Studien, um die Wirksamkeit und Sicherheit von Lecanemab bei der frühen Alzheimer-Krankheit besser bestimmen lassen zu können. Dass die Hersteller eine Zulassung für Lecanemab in einem Dringlichkeitsverfahren in den USA erhalten würden, wurde eher skeptisch gesehen.
Zulassung im Eilverfahren: „Einem unerfüllten Bedürfnis“ Genüge tun.
Doch vergangenen Freitag kam es zu einer überraschenden Entscheidung: Die Zulassungsbehörde FDA erteilte die «beschleunigte Zulassung» («Accelerated Approval») für Lecanemab. Diese Form der Zulassung erlaubt den Einsatz von Medikamenten bei Krankheiten, für deren Behandlung es „ein unerfülltes Bedürfnis“ gebe, während weiterhin umfangreichere Studien durchgeführt werden sollen.
Lecanemab in den Medien: „Hoffnung für Millionen“ – „Neues Alzheimer-Mittel kommt auf den Markt“
Diese Entscheidung der FDA ist – zu Recht – eine echte News. Rund um den Globus sorgt die Meldung für Schlagzeilen, wobei die Berichte heute meist durchaus verhaltener ausfallen als vor wenigen Monaten, als die ersten Studienergebnisse in Teilen ohne die nun bekannten Details vorgestellt worden waren. Die Medien-Reaktion ist also groß, aber auch zurückhaltend:
„US-Arzneibehörde vergibt Zulassung für Alzheimer-Medikament – Die Behandlung mit dem Antikörper Lecanemab soll das Fortschreiten von Alzheimer im frühen Stadium verlangsamen. In Testreihen war es jedoch zu Nebenwirkungen gekommen,“ schreibt etwa die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) dazu. Auch die TAGESSCHAU der ARD berichtete mit der Headline „Schwere Nebenwirkungen möglich – US-Zulassung für neues Alzheimer-Medikament“ und der SPIEGEL titelte „US-Arzneibehörde vergibt Zulassung für Alzheimermedikament – In Testreihen kam es zu Hirnschwellungen und Blutungen im Gehirn, trotzdem hat die FDA eine beschleunigte Zulassung für ein Antikörpermedikament vergeben.“
Handelsname: Leqembi – Jahreskosten: rund 26.500 US-Dollar.
Lecanemab kommt nun in den USA unter dem Handelsnamen „LEQEMBI“ auf den Markt. Die Kosten für eine Therapie mit Leqembi sollen sich pro Jahr auf ca. 26.500 US-Dollar belaufen. Ob die Patient:innen diese Kosten selbst tragen müssen oder ob die amerikanischen Krankenversicherungen die Behandlung zahlen, ist noch unklar.
So oder so – das HANDELSBLATT schreibt dazu: „Dessen ungeachtet, sehen Analystinnen und Analysten angesichts des enormen Therapiebedarfs von Alzheimer ein sehr großes Potenzial in dem Produkt. Die britische Analysefirma Evaluate Pharma, die Marktdaten und Analystenschätzungen aggregiert, sieht das Medikament als potenziell umsatzträchtigste Neueinführung des laufenden Jahres. Bis 2028 könnte der Jahresumsatz danach auf drei Milliarden Dollar steigen.“
Zulassungsantrag für Europa: Wie stehen die Chancen?
Die Hersteller von Leqembi haben nach dem positiven Entscheid der FDA angekündigt, noch im ersten Quartal 2023 auch in Europa eine Zulassung zu beantragen. Ob, wie und wie schnell die EMA (Europäische Arzneimittel-Agentur) entscheidet, bleibt abzuwarten. Im Falle eines anderen Antikörpers namens Aducanumab (Handelsname: Aduhelm), der in den USA unter äußerst widersprüchlichen Umständen zugelassen worden war und dann bald wieder vom Markt verschwand, hatte die EMA ein negatives Urteil gefällt. Aduhelm hat die europäischen Patient:innen nie erreicht.
Vermutlich wird es noch intensive Debatten auf wissenschaftlicher und politischer Ebene über das Nutzen-Risiko-Verhältnis von Lecanemab/Leqembi geben. Sollte die EMA „grünes Licht“ geben, kämen ausschließlich Patient:innen mit milder bzw. beginnender Alzheimer-Demenz für eine Behandlung mit dem Wirkstoff in Frage, bei denen zuvor zahlreiche Risikofaktoren ausgeschlossen werden und die einer intensiven begleitenden Diagnostik unterzogen werden müssten.
Fazit: Die Forschung schreitet generell voran – und das ist auch gut so.
Im März 2023 werden wir mehr wissen und sicherlich werden in der Zwischenzeit auch in den USA weitere offene Fragen zur Diskussion stehen und/oder geklärt werden. Derzeit sind hunderte weitere Stoffe Gegenstand der Forschung und neue Therapiemöglichkeiten werden dringender gebraucht denn je. Vermutlich werden es aber auch in nächster Zeit vor allem Kombinations-Therapien sein, die den Betroffenen am besten helfen können.
Die Organisation „Alzheimer Schweiz“ fasst dies gut zusammen. Sie schreibt: „Nichtmedikamentöse Interventionen bleiben wichtig – Bei einer Zulassung von Lecanemab werden zudem nur Menschen in einem frühen Stadium ihrer Alzheimer-Erkrankung davon profitieren können. Deshalb bleiben nichtmedikamentöse Interventionen weiterhin von zentraler Bedeutung, um die Lebensqualität von Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen zu stabilisieren oder zu verbessern.“
Quellen (Wissenschaft):
https://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMoa2212948?query=recirc_curatedRelated_article
https://www.science.org/content/article/scientists-tie-third-clinical-trial-death-experimental-alzheimer-s-drug
https://www.nature.com/articles/d41586-023-00030-3
Quellen (Deutsche Medien):
https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/alzheimer-medikament-101.html
https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/gesundheit/usa-zulassung-fuer-medikament-gegen-alzheimer-18585300.html
https://www.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/pharmaindustrie-fda-erteilt-neuem-alzheimer-medikament-vorlaeufige-zulassung/28909750.html
https://www.welt.de/wissenschaft/article243078501/Leqembi-Neues-Medikament-koennte-Alzheimer-Verlauf-verlangsamen.html
https://www.spiegel.de/wissenschaft/us-arzneibehoerde-vergibt-zulassung-fuer-alzheimer-medikament-a-ece261d4-9c24-413b-9581-cdd0a14f45c2